„Rückführungspatenschaften“ und „Corona-Diktatur“ ist Unwort-Paar des Jahres 2020
Die Philipps-Universität Marburg hat am 12. Januar das Unwort des Jahres 2020 bekannt gegeben. Sieger der sprachkritischen Aktion sind diesmal gleich zwei Wörter: Rückführungspatenschaften und Corona-Diktatur. Außerdem gab es einen Wechsel bei der Jury.
Das Jahr 2020 ist in bisher kaum gekannter Weise von einem einzigen Thema geprägt worden, der Corona-Pandemie. Dadurch war auch der öffentliche Diskurs lange Zeit auf dieses eine Thema konzentriert. Mit der erstmaligen Wahl eines Unwort-Paares wolle man Rücksicht darauf nehmen, dass dieses Thema in der Öffentlichkeit wie in den Unwort-Einsendungen dominierte, so die Jury. Sie mache aber zugleich darauf aufmerksam, dass auch in anderen Themenbereichen weiterhin inhumane und unangemessene Wörter geprägt und verwendet werden. Als Unwörter des Jahres 2020 wurden daher Rückführungspatenschaften und Corona-Diktatur gewählt. Mit dieser Doppelwahl wolle die Jury zudem erneut verdeutlichen, dass die „Unwort-Wahl“ keineswegs als Zensurversuch zu verstehen sei, wie ihr gelegentlich unterstellt wurde, sondern als Anlass zur Diskussion über den öffentlichen Sprachgebrauch und seine Folgen für das gesellschaftliche Zusammenleben.
Mit Rückführungspatenschaften (41-mal vorgeschlagen) wurde im September 2020 von der EU-Kommission ein neuer Mechanismus der Migrationspolitik bezeichnet: Die EU-Staaten, die sich weigern, Flüchtlinge aufzunehmen, sollen ihrer „Solidarität“ mit den anderen Mitgliedern der EU dadurch gerecht werden, dass sie die Verantwortung für die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber übernehmen. Dies als „Rückführungspatenschaften“ zu bezeichnen, hält die Jury für zynisch und beschönigend: Der ursprünglich christlich geprägte, positive Begriff der Patenschaft stehe für Verantwortungsübernahme und Unterstützung im Interesse von Hilfsbedürftigen. In der Zusammensetzung mit dem – ebenfalls beschönigend für „Abschiebung“ gebrauchten – Wort „Rückführung“ werde suggeriert, „dass Abschieben eine gute menschliche Tat“ (Zitat aus einer Einsendung) sei.
Das Wort Corona-Diktatur (21-mal vorgeschlagen) wurde seit Beginn des öffentlichen Diskurses um den politischen Umgang mit der Pandemie von der selbst ernannten „Querdenker“-Bewegung und insbesondere von deren rechtsextremen Propagandisten gebraucht, um regierungspolitische Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zu diskreditieren. Dass der Ausdruck auf Demonstrationen verwendet wird, die – anders als in autoritären Systemen – ausdrücklich erlaubt sind, stelle schon in sich einen Widerspruch dar. Zudem verharmlose der Ausdruck tatsächliche Diktaturen und verhöhne die Menschen, die sich dort gegen die Diktatoren wenden und dafür Haft und Folter bis hin zum Tod in Kauf nehmen oder fliehen müssten. Dies erscheine laut Jury umso problematischer, als das Schlagwort oft von denen verwendet werde, die – wie es in einer Einsendung heißt – „ja selbst und zum Teil ganz offen auf die Abschaffung der bürgerlichen Freiheiten und der sie repräsentierenden Verfassung zielen“. Der Ausdruck mache es zudem schwieriger, berechtigte Zweifel an einzelnen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie offen und konstruktiv zu diskutieren.
Neue Jury
Mit der Kür des 30. Unworts verabschiedet sich die Jury nach zehn Jahren der Zusammenarbeit in unveränderter Besetzung. Sprecherin Nina Janich und die anderen Juroren haben sich entschieden, das Projekt Unwort des Jahres in andere, jüngere Hände zu legen. „Wir freuen uns, Kolleginnen und Kollegen gefunden zu haben, die es für ebenso wichtig halten wie wir, die unabhängige, sprachkritische Aktion auch 30 Jahre nach ihrer Gründung durch Horst Dieter Schlosser fortzusetzen.“
Den Anstoß zum Wechsel hätten teils berufliche, teils Altersgründe gegeben. Einig seien sich bisherige und neue Jury allerdings darin, dass das Projekt als Seismograf für inhumanen, diskriminierenden, undemokratischen und/oder verschleiernden Sprachgebrauch in der Öffentlichkeit mindestens so notwendig sei wie bei seiner Gründung 1991.
Der Konsens darüber, wo die „Grenzen des Sagbaren“ liegen, sei heute so brüchig wie nie in den vergangenen Jahrzehnten. „Gerade deshalb erscheint es uns weiterhin wichtig, exemplarisch auf Verschiebungen dieser Grenzen öffentlich hinzuweisen, wenn sie einen sachlichen, an Fakten orientierten und nicht-diskriminierenden Diskurs gefährden. Das hat sich die Aktion ‚Unwort des Jahres’, die über keine anderen Mittel verfügt als den Versuch zu überzeugen, von Anfang an zum Ziel gesetzt.“
Bislang bestand die Jury aus folgenden Mitgliedern: den vier Sprachwissenschaftlern Prof. Dr. Nina Janich / TU Darmstadt (Sprecherin), Prof. Dr. Kersten Sven Roth (Universität Magdeburg), Prof. Dr. Jürgen Schiewe (Universität Greifswald, pensioniert) und Prof. Dr. Martin Wengeler (Universität Trier) sowie dem Autor und freien Journalisten Stephan Hebel. Als jährlich wechselndes Mitglied war in diesem Jahr die Autorin Kübra Gümüşay beteiligt.
Hintergrund der Aktion
Das Unwort des Jahres wurde in diesem Jahr zum 30. Mal bekannt gegeben. Die Aktion, die es seit 1991 gibt, ist institutionell unabhängig. Bis 1994 wurde sie von der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) durchgeführt. Die Jury erhielt diesmal insgesamt 1826 Einsendungen mit 625 verschiedenen Ausdrücken, von denen gut 70 den Unwort-Kriterien der Jury entsprachen.
Zu den häufigsten Einsendungen (10 und mehr) zählten: Abschiebe-/Rückführungspatenschaft (41), Corona-Diktatur (21), Covidiot (43), Herdenimmunität (41), Öffnungsdiskussionsorgien (50), querdenken (55), Querdenker (116), Schweinestau (35), Social Distancing (34) und systemrelevant (180).
Unwörter der vergangenen Jahre
- 2019: Klimahysterie
- 2018: Anti-Abschiebe-Industrie
- 2017: alternative Fakten
- 2016: Volksverräter
- 2015: Gutmensch
- 2014: Lügenpresse
- 2013: Sozialtourismus
- 2012: Opfer-Abo
- 2011: Döner-Morde
- 2010: alternativlos
- 2009: betriebsratsverseucht
- 2008: notleidende Banken
- 2007: Herdprämie
- 2006: freiwillige Ausreise
- 2005: Entlassungsproduktivität
- 2004: Humankapital
- 2003: Tätervolk
- 2002: Ich-AG
- 2001: Gotteskrieger
- 2000: national befreite Zone
- 1999: Kollateralschaden
- 1998: sozialverträgliches Frühableben
- 1997: Wohlstandsmüll
- 1996: Rentnerschwemme
- 1995: Diätenanpassung
- 1994: Peanuts
- 1993: Überfremdung
- 1992: ethnische Säuberung
- 1991: ausländerfrei