„Sozialtourismus“ ist Unwort des Jahres 2013
Die Philipps-Universität Marburg hat am 11. Januar das Unwort des Jahres 2013 bekannt gegeben. Sieger der sprachkritischen Aktion ist „Sozialtourismus“. Im letzten Jahr sei die Diskussion um erwünschte und nicht erwünschte Zuwanderung nach Deutschland wieder aktuell geworden, so begründet die Jury ihre Wahl. In diesem Zusammenhang sei von einigen Politikern und Medien mit dem Ausdruck „Sozialtourismus“ gezielt Stimmung gegen unerwünschte Zuwanderer, insbesondere aus Osteuropa, gemacht worden. Das Grundwort „Tourismus“ suggeriere in Verdrehung der offenkundigen Tatsachen eine dem Vergnügen und der Erholung dienende Reisetätigkeit. Das Bestimmungswort „Sozial“ reduziere die damit gemeinte Zuwanderung auf das Ziel, vom deutschen Sozialsystem zu profitieren. Dies diskriminiere Menschen, die aus purer Not in Deutschland eine bessere Zukunft suchen, und verschleiere ihr prinzipielles Recht hierzu.
Der Ausdruck „Sozialtourismus“ reihe sich dabei in ein Netz weiterer Unwörter ein, die zusammen dazu dienen, diese Stimmung zu befördern: „Armutszuwanderung“ sei im Sinne von „Einwanderung in die Sozialsysteme“ ursprünglich diffamierend verwendet worden und werde nun zunehmend undifferenziert als vermeintlich sachlich-neutraler Ausdruck gebraucht. Mit „Freizügigkeitsmissbrauch“ werde denjenigen, die die in der EU jetzt auch für Menschen aus Bulgarien und Rumänien garantierte Freizügigkeit nutzen, ein kriminelles Verhalten unterstellt. Laut Jury treibe jedoch der Ausdruck „Sozialtourismus“ die Unterstellung einer böswilligen Absicht auf die Spitze.
Neue Kategorie
In diesem Jahr hat die Jury eine neue Kategorie eingeführt, um die Vorschläge, die den prominenten und jährlich wechselnden Gästen besonders am Herzen liegen, besser würdigen zu können: das persönliche Unwort des jeweiligen Gastes, das den Kriterien der Jury genügen kann, aber nicht unbedingt muss.
Persönliches Unwort des diesjährigen Gastes Ingo Schulze: Arbeitnehmer/Arbeitgeber
Geht man von der grundlegenden Bedeutung von Arbeit als Leistung/Arbeitskraft aus, dann verkehre das Wortpaar in dramatischer Weise die tatsächlichen Verhältnisse: Wer die Arbeit leistet, gibt, verkauft, wird zum Arbeitnehmer degradiert – wer sie nimmt, bezahlt und von ihr profitiert, zum Arbeitgeber erhoben. Die biblische Wendung „Geben ist seliger als nehmen“ klinge bei diesem Begriffspaar unterschwellig immer mit. Aber auch wer den Begriff Arbeit in seiner abgeleiteten institutionellen Bedeutung als Arbeitsstelle begreift – Arbeitgeber als jene, die die Arbeitsstelle zur Verfügung stellen, also „Arbeitsplätze schaffen“ –, unterschlage, dass diese Arbeitsstelle (sei es die Maschine, der Bürotisch oder die Computersoftware) ja auch erst durch Arbeit geschaffen werden musste. Diese sprachliche Perspektivierung, die für eine bestimmte Denkhaltung stehe (z. B. dass es ohne Arbeitgeber keine Arbeit gebe) und diese als die gültige zementiere, sei schon von Friedrich Engels und Karl Marx kritisiert worden.
Hintergrund der Aktion
Das Unwort des Jahres wurde in diesem Jahr zum 23. Mal bekannt gegeben. Die Aktion, die es seit 1991 gibt, ist institutionell unabhängig. Bis 1994 wurde sie von der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) durchgeführt. Die Jury erhielt diesmal insgesamt 1340 Einsendungen mit 746 verschiedenen Ausdrücken. Unter den häufigsten Einsendungen (mehr als 10), die den Kriterien der Jury entsprechen, waren: „Supergrundrecht“ (45), „Homo-Ehe“ (19), „Ausschließeritis“ (16) und „Armutszuwanderung/-einwanderung“ (15). Außer Konkurrenz liefen Einsende-Kampagnen zu den Wörtern „Schnabelbehandlung“ (218-mal eingesendet) und „Umstrittene Verhörmethode“ (26-mal eingesendet). Zur Jury gehören: die vier Sprachwissenschaftler Prof. Dr. Nina Janich / TU Darmstadt (Sprecherin), PD Dr. Kersten Sven Roth (Universität Zürich), Prof. Dr. Jürgen Schiewe (Universität Greifswald) und Prof. Dr. Martin Wengeler (Universität Trier) sowie der Autor und Journalist Stephan Hebel. Als jährlich wechselndes Mitglied war in diesem Jahr der Schriftsteller Ingo Schulze beteiligt.
Unwörter der vergangenen Jahre
- 2012: Opfer-Abo
- 2011: Döner-Morde
- 2010: alternativlos
- 2009: betriebsratsverseucht
- 2008: notleidende Banken
- 2007: Herdprämie
- 2006: freiwillige Ausreise
- 2005: Entlassungsproduktivität
- 2004: Humankapital
- 2003: Tätervolk
- 2002: Ich-AG
- 2001: Gotteskrieger
- 2000: national befreite Zone
- 1999: Kollateralschaden
- 1998: sozialverträgliches Frühableben
- 1997: Wohlstandsmüll
- 1996: Rentnerschwemme
- 1995: Diätenanpassung
- 1994: Peanuts
- 1993: Überfremdung
- 1992: ethnische Säuberung
- 1991: ausländerfrei